Für Hans Hermann Richter
Wenn „Erinnerung eine Form von Vergessen ist“, wie Günter Eich, einer der wichtigsten Dichter der bislang letzten Nachkriegszeit in Deutschland, bemerkte, könnte nicht das Vergessen von vermeintlich Gewusstem, von Gewissheiten, die Erinnerung daran freilegen, worauf es am Ende eigentlich ankommt? Worauf wird es ankommen? Schon wieder ein Vers aus einem Gedicht, tausende Male von Tausenden täglich vor- oder nachgesprochen, im Frühjahr 1990 von einer Kollegin Richters aufgeschrieben, der Töpferin Christiane Grosz aus Berlin. Die in die Zukunft gerichtete Frage hat existentielle Qualität. Die Grosz nimmt aber die Worte wörtlich und schon verändert sich die Perspektive. „worauf wird es ankommen“, fragt sie, „im gedicht/wird es auf knien kommen“? – Und in der Malerei?
Es kommt, sagt Hans Hermann Richter, auf den Vortrag an, wörtlich: „Ich arbeite am Vortrag./Sensationeller Bildstoff ist für mich uninteressant./In den Erscheinungsbeziehungen sehe ich das Prinzip künstlerischen Denkens./Form und Farbe, Vortrag und Gestaltung sind Träger des Inhaltes.“ Ich las das in einem kleinen Heft im September 89. Es war anlässlich einer Ausstellung in Gatersleben gedruckt worden, die Richter dort gemeinsam mit Johann Peter Hinz hatte. So einfach war das also. Es beeindruckte mich. Wenn ich auch nicht genau wusste, was dieses es war und worauf es ankommen würde. Möglicherweise auf einem der Wagen der Flüchtlingstrecks, in denen die Deutschen im Januar 45 Richtung Westen flohen? Ein Jahr zuvor wurde Hans Hermann Richter dort, im Osten, im schlesischen Militsch, geboren. Tatsächlich – aber das lese ich tatsächlich erst jetzt nach – ist die Mutter mit dem Kleinkind Anfang 45 mit einem Auto Richtung Westen unterwegs. Am 13./14. Februar in Dresden er- und überleben sie dort das verheerende Bombardement der Alliierten auf die Stadt, weil das Auto einen Schaden hat und sie nicht wegkommen.
Angesichts der Bestimmtheit, mit der Hans Hermann Richter später sein künstlerisches Statement abgibt, könnte die sichernde Zögerlichkeit irritieren, mit der er dann die verschiedenen Stufen seiner Ausbildung in Angriff nimmt. Nach dem Abitur, dass er in dem seinem Wohnort Bottendorf nahen Roßleben ablegt, beginnt er zunächst eine Lehre als Möbeltischler. Von da springt er in ein Studium an die Fachschule für Spielzeuggestaltung in Sonneberg, von dort schließlich an die Hochschule für industrielle Formgestaltung, als die die alte Burg, die heutige Kunsthochschule, seit 1958 firmierte. 1970 schließt er mit einem Diplom als Baukeramiker ab und baut sich, wiederum, so scheint es, folgerichtig, in Gemeinschaft mit anderen Künstlern in der Halberstädter Pfeffermühle eine eigene Keramikwerkstatt auf. Der junge Künstler schaut, und das ist vielleicht die weit näher liegende Lesart seiner biografischen Daten, wohin ein nächster Schritt überhaupt für ihn möglich sein könnte, nicht berechnend, aber doch in den tatsächlichen Verhältnissen der Wirklichkeit navigierend, justierend, man könnte es lebensklug nennen. Nicht kühn genug, um den großen Sprung zu wagen, fehlt ihm letztlich zugleich die Demut, sich zu bescheiden.
Schon als Hans Hermann Richter sein Studium in Halle abschließt, gibt es ein kleines, durchaus beachtenswertes, vorwiegend aus Porträts, Akten und Stilleben bestehendes druckgrafisches Werk. Auch in Halberstadt beschäftigt er sich weiter mit freien grafischen und malerischen Arbeiten, intensiver seit 73/74, letzteres das Jahr, in dem er im VBK (Verband bildender Künstler) von der Sektion Kunsthandwerk in die der Malerei wechselt. Jetzt scheint er sich offenbar sicher.
Der künstlerische Aufschlag, den Richter in den nächsten Jahren macht, wird von mehreren, allesamt als Studien bezeichneten Selbstbildnissen begleitet. In der 75er Studie erscheint die Künstlerbüste vor vernebeltem Fond, mystisch von hinten belichtet, den Kopf zur Seite dem Betrachter zugewandt und ihn, indem die Augen ein wenig nach unten blicken, zugleich distanzierend. Die dezente Koketterie, die aus der Inszenierung spricht, ist ein Jahr später verschwunden. Der Kopf begegnet uns en face, düster, vor düsterem Hintergrund, spärlich beleuchtet. Kleine, etwas verengte, prüfende Augen treten weit zurück hinter der mächtigen Kinn-, Mund-, Nasenpartie. Die Distanz, die sich aufbaut ist in diesem Fall eine der Ferne, wie aus der Erfahrung einer anderen, dem Betrachter nicht zugänglichen, Sphäre. Ein weiteres Jahr später, die Helligkeit ist wieder im Bild zurück, das Gesicht scheint aus dem Hintergrund von beiden Seiten erhellt, erscheinen die Augen des Künstlers wie verletzt über einem Mund, aus dessen Signatur Ernüchterung nichts anderes als Ernüchterung zu sprechen scheint. Diese Art Porträtstudien – es gibt meines Wissens kein dezidiertes Selbstbildnis – mit denen Richter die eigene Verfassung zu erforschen versucht, bleiben über die Jahre seines Werks immer wiederkehrende, obligatorische und vor allem aufschlussreiche Prüfinstrumente, sowohl für den Künstler als auch für den Betrachter. Sie sind Zeugnisse eines tiefsitzenden, elementaren und eben nicht nur künstlerischen, sondern primär menschlichen Bedürfnisses nach sich selbst. Bin ich noch anwesend in diesem Leben? Manchmal scheint er sich da nicht so sicher zu sein.
Doch zurück in die 70er-Jahre. Mit den ersten, großformatigen Bildern, die 1975/76 auf der Staffelei entstehen und die der Maler fortan ausschließlich unter dem Begriff Stilleben nach draußen gibt, wird manifest, was zart in der Druckgrafik bereits angelegt war und was ihn sein ganzes künftiges Malerleben lang am Arbeiten und auch am Atmen halten wird.
Was sind das für Bilder? Die gängige Lesart schließt aus der oben zitierten Äußerung Richters, wonach „sensationeller Bildstoff“ für ihn als Maler uninteressant sei, oft allzu kurz, dass der Gegenstand selbst nebensächlich sei. Das widerspricht dem Werk, wie wir es heute überblicken. Selbst wenn die Gegenstände aus seinen Bildern zu verschwinden scheinen, als Form-Chiffren bleiben sie und ihre Bedeutsamkeit immer anwesend. Endlich sind diese Stilleben, die 1977/76 in einer ersten großen Folge entstehen, trotz der wenig sensationellen Gegenstände, die da auf der Leinwand erscheinen durchaus das, was man spektakulär nennen könnte, zumal im Kontext der zeitgenössischen ostdeutschen Malerei. Uwe Gellner hat einmal zu Recht darauf hingewiesen, dass Richters Stilleben mit dem französischen nature morte oder demitalienischen natura morta treffender bezeichnet wären als mit dem, den geistigen Sprengstoff eher entschärfenden deutschen Begriff, wobei einschränkend bemerkt sei, dass wir es in Richters Stilleben selten ausschließlich mit der Natur zu tun haben. Von ihrer Anlage her sind es freilich zunächst hoch artifizielle Inszenierungen. Auf einem unsichtbaren, weil von weißem Tuch überdeckten Tisch drapiert eine Geige, ein Vogelnest mit Eiern oder nur Eier, ein schwarzes Tuch, ein Malkoffer, offen oder geschlossen, eine Flasche, ein Glas, ein dünner, langer Rohrstock, die Szenerie wird über die Jahre wechseln, die Gegenstände im Chiffrehaften beinahe verschwinden und dann plötzlich wieder auftauchen. Was gerade die ersten großen Stilleben besonders macht, der hohe Bildhorizont. Es ist weniger Stille, die dieser Bilder verbreiten, als vielmehr die Abwesenheit jedes Tons, jedes Geräuschs, jedes Lauts. Letztlich mag es jeder sehen wie er oder sie es will, für mich sind diese Bilder Inszenierungen des Todes und der stolz gesetzte Beginn einer fortdauernden, angesichtigen Zwiesprache mit der sehr konkreten eigenen Endlichkeit, in der sich der Künstler wie in einem Möbiusband bewegt. Diese Stilleben sind ein bewusster Bruch mit den Forderungen der äußeren Welt, von der vermeintlich sozialistischen Gegenwart einmal ganz abgesehen, eine Absage an Ideologien jeglicher Couleur. Vorsicht! Die Kunst nicht mit dem Leben verwechseln! Richter macht seine Kunst – im besten Sinn – unbrauchbar. Das immer wieder abfällig belächelte Allgemeinmenschliche rückt an erste Stelle, allerdings ohne Menschen, wenn man einmal vom Malerschädel selbst absieht. Auch die Landschaften, die parallel zu den Stilleben entstehen, sind menschenleer, changierend zwischen Chaos und Bild-Ordnung.
Worauf wird es in dieser Konfrontation, denn darum handelt es sich hier, worauf wird es ankommen, in der Malerei, wenn es darum geht, ein Bild haltbar zu machen, auszuhalten im Bimbam der Bilderfluten.
Im Leben mag man sich drumherum drücken, in der Kunst geht das nicht. Wer lügt, malt schlechte Bilder, so einfach ist das.* Es wird auf die Farbe ankommen. Es wird auf den Strich des Pinsels ankommen, auf das Ordnen und Gewichten. Es wird auf den Vortrag ankommen, denn natürlich sind Künstler – wie übrigens wir alle – „nur“ Vortragende. Worauf wird es ankommen? Wird es auf dem Vortrag ankommen, auf der Farbe, auf der Wucht oder der Zartheit des Pinselstrichs, worauf die Seelenlast, die Seelenlust des Künstlers vor unseren Augen in die Welt balanciert? Worauf sonst!
* Die Partie adaptiert einen Vers aus dem Gedicht „Wahrlich“ von Ingeborg Bachmann: „Einen einzigen Satz haltbar zu machen, / auszuhalten in dem Bimbam von Worten. // Es schreibt diesen Satz keiner, / der nicht unterschreibt.“
Der Beitrag erschien in „OT“ Huy-Neinstedt Hans-Herrmann Richter, Halberstadt 2024