September 11, 2020

NOT FOR SALE

Ich glaube, dass Kunst immer mit einem Moment – übrigens Kunst wie Leben – mit einem Moment des Unverfügbaren einhergeht, das Energie aus der Interaktion gewinnt, aus dem In-lebendige-Verbindung-treten mit etwas. (Hartmut Rosa, Soziologe und Sozialphilosoph, 2017)

Mai 2020. Nach Wochen notgedrungener Schließung versuchen die Händler den Konsumtionsmotor wieder in Gang zu bringen. SALE heißt das Zauberwort, das uns aus jedem zweiten Schaufenster anschreit: 20, 30, 50, 70 Prozent Rabatt. Absenkung der Mehrwertsteuer. Förderprogramme im Milliardenrausch. Diese Wirtschaft funktioniert wie Fahrradfahren. Wenn sie zu langsam wird, kippt sie. Wer zu langsam wird, fällt raus und muss sehen, dass er von den Verfolgern nicht überrollt wird. Die „Kunstmache“ und deren Erwerb werden nicht vergessen. Nur das Land Berlin fördert den Erhalt des kulturellen Soziotops, indem es eine Art von „bedingungslosem Grundeinkommen“ ausreicht. Dort weiß man offenbar, Leben kommt vor Kunst und in der Regel hat der Künstler vor allem das Problem, sein Betriebskapital über die Runden zu bringen, das – was hat sich der liebe Gott nur dabei gedacht! – an seinem physischen Körper klebt wie Pech. Andernorts denkt man wie man immer denkt.
Gefördert wird Produktion, nicht künstlerische Entwicklung, nicht kritische Auseinandersetzung, sofern sie als Bedürfnis überhaupt noch vorhanden ist. Keine Förderknete ohne Projekt. Obschon wir nicht an einem Mangel an Objekten der Kunst leiden, sondern, wie auf fast allen Feldern der produzierenden Wirtschaft, an Überproduktion, deren ein Charakteristikum oft mangelnde Nachhaltigkeit ist. Staatliche Ankaufsprogramme gelten als Win-win-Instrument. Die Not der Künstler schmilzt gleichsam in mäzenatischem Glanz.

Gestern, am längsten Tag des Jahres, an dem meine Enkeltochter geboren wurde, ist der große Schauspieler Jürgen Holtz gestorben, der übrigens auch Zeichner und Maler war. Ich höre es im Radio, während ich am großen Küchentisch an diesem Konzept sitze. Unvergesslich sein Buttler in der Regie von Peter Stein. Ich hatte das sichere Gefühl, etwas erlebt zu haben, was es so nie wieder geben würde, weder für mich noch für den, der da vorn stand. Zu Holtz‘ Selbstverständnis als Künstler zitiert das Radio aus einem Gespräch mit ihm, wobei ich das nebenbei Erfasste hier lediglich sinngemäß wiedergeben kann: dass er nicht verkauft, sondern verschenkt, wenn er etwa auf der Bühne steht.

Aber wissen wir es nicht besser? Jeder und alles hat seinen Preis, negativ konnotiert: ist käuflich, oder? Und auch ein Jürgen Holtz spielt nicht ohne Gage. Auch er muss seinen Körper erhalten, als Reservoir permanent zu reproduzierender Fähigkeiten, die ein Engagement als Schauspieler überhaupt erst möglich machen. Die Anwesenheit dieser Fähigkeiten in Gestalt des Schauspielers wird durch Zahlung einer entsprechenden Gage sichergestellt, meine Anwesenheit im Theatersaal durch den Erwerb eines Billetts. Die Vorstellung kann beginnen. Ich sitze im Fauteuil. Der Schauspieler betritt die Bühne. Jeder halbwegs reflektierte Künstler kennt das Phänomen. Er hört, wie er den Text spricht, aber er selbst ist darin nicht enthalten. Er steht, am Geländer des Geprobten, neben sich. Er kann nicht spüren, was er sicher weiß, dass jetzt die Kollegin von hinten an ihn herantritt. Er sieht das Publikum. Ja, es ist ein Publikum anwesend. Vielleicht, dass mir gerade dieser erhellte Moment beherrschter Frustration, da der Mensch da oben sich verzweifelt darum bemüht, seinem gesprochenen Wörtern sich einzuverleiben, der eindrücklichste des Abends bleibt. Darauf gibt es keine Gewährleistung mit dem Erwerb der Eintrittskarte, der Zahlung der Gage, infolgedessen: NOT FOR SALE, nicht verfügbar, weil es uns nicht gehören kann. Selbst verschenken? Geht das?

Andere Szene: Vorschlag von B., die derzeit im Barberini laufende Ausstellung mit Bildern von Claude Monet zu besuchen, eine wahrscheinlich einmalige Gelegenheit. Wir hatten vor kurzem einen Film gesehen, der damit zusammenhing. Karten sind nur online verfügbar, wegen der Pandemie zusätzlich begrenzt. Jeden Morgen ab ca. 10 Uhr für den 10. darauf folgenden Tag. Zugang in einem Zeitfenster von einer Viertelstunde. Was ist, wenn ich nichts „sehe“. Die Angst des Betrachters vor dem Bild. Die Museen versuchen diesen Frustration erzeugenden Ausfall durch Information und – im ärgsten Fall – Erlebnis- und Deutungsempfehlungen abzufedern. Ich bin noch müde, als wir nach Potsdam rüber fahren, weil ich gestern erst spätabends zu Hause war. Dem kahlen neuen Alten Markt mit seinem in den Himmel spießenden Obelisken fehlt eigentlich nur ein Kommando preußischer Grenadiere, dann wäre die Re-Konfiguration perfekt. Wir stellen uns in die langsam nach innen abtropfende Schlange der Besucher. Keine Vorfreude, keine Erwartung. Was soll schon kommen. Die Bilder Monets, die ich, so mein Gefühl, eigentlich nur aus Katalogen und eben aus dem genannten Film kenne, haben mich eigentlich nie so berührt, dass ich sie unbedingt zu sehen wünschte. Und tatsächlich war es so, dass ich diese Bilder wirklich noch nie gesehen hatte. Was mich verblüffte und gleichsam durch die Ausstellung sog, war nicht, was man im Kontext impressionistischer Malerei gern mit dem Adjektiv „stimmungsvoll“ fasst, sondern die rücksichtslose Akribie, mit der Monet den Phänomenen des Atmosphärischen mit dem Pinsel nachzuforschen schien. Es war oft eine geradezu körperlich spürbare, auch bedrängende Gegenwärtigkeit, mit der die Bilder sich mir näherten. (Ernüchternde Ausnahmen, die meisten seiner Italienbilder, „nur“ grandioses Handwerk!) Als menschliche Voraussetzung stellte ich mir ein manisch konstituiertes Sehen vor, gebändigt und akkumuliert in Bildern, die jetzt Areale eines magischen Transfers sind, eines Transfers, wenn man so will, von Monets Augen in meinen Kopf. Kann man solche Bilder besitzen, erwerben? Mir schien und scheint das eine abstruse und völlig an den Tatsachen vorbeigehende Vorstellung trotz gegenteiliger Fakten. Viel angemessener ist mir die Vorstellung, dass die Bilder das Haus besitzen. Unsere Augen wären dann bei ihnen zu Gast, NOT FOR SALE beide, nicht verfügbar, ein interaktives Geschenk. Eine im vielgescholtenen Kunstmarkt bei spektakulären Verkäufen oft gebrauchte Wendung, nach der das Bild seinen Besitzer gewechselt habe, zollt diesen Tatsachen wohl unbewusst Tribut. Denn wer ist in diesen Deals das handelnde Subjekt. Der Käufer, der eine rational nicht zu begründende Summe Geld auf den Tisch legt, um ein Werk der Kunst, im Kern seines Wesens unverfügbar, zu besitzen? Oder ist es das Werk, das ihn dazu bewegt?

(Initialtext für die Ausstellung „NOT FOR SALE“, 19.11.20-30.05.21 in der Ausstellungshalle des Forum Gestaltung, Magdeburg. Mit Arbeiten von Johanna Bartl, Horst Bartnig, Monika Baumgartl, Bruno Beye, Thomas Blase, Manfred Butzmann, Steffen Christophel, Carl Friedrich Claus, Jens Elgner, Andreas Freyer, Hermann Glöckner, Anette Groschopp, Norbert W. Hinterberger, Nancy Jahns, Cathleen Meier, Paul Müller-Kaempf, Ralf Kerbach, Gabriele Koerbl, Kōji Kamoji, Wieland Krause, Hans-Wulf Kunze, Horst Leifer, Carina Linge, Georg Mann, Harald Metzkes, Johannes Nagel, Otto Niemeyer Holstein, Emerita Pansowová, Annedore Policek, Wolfgang Policek, Daniel Priese, Dorothea Prühl, Hans Hermann Richter, Matthias Ritzmann, Heidrun Rueda, Heide Kathrein Schmiedel, Maximilian Schmiedel, Wieland Schmiedel, Gerhard Schwarz, Sibylle Waldhausen, Andrea Wippermann.)