Eine Verwanderung. Für Thomas Blase
I Am letzten Tag
Auf der Startseite der Internetpräsenz von Thomas Blase findet sich neuerdings ein Foto. Als Autorin wird Maylin Ratz genannt, die ich nicht kenne, auch im Netz existieren offenbar keine Daten. Was ist auf dem Foto zu sehen? Rechts ein Baumtorso, wohl von einem Kirschbaum, der Ort scheint ein alter Wegrain zu sein. Schon weitgehend rindenlos, lassen sich die Spuren von Fäulnis und Insektenfraß ausmachen. Die unbeholfen an den Stamm genagelten Leistenstücke führten einmal als Leiter in eine mächtige, reich fruchttragende Krone. Wie alt mögen die Kinder jetzt sein, die dort hinaufgeklettert sind und sich den Bauch mit Kirschen vollschlugen? Wann habe ich das letzte Mal Kinder auf Kirschbäumen gesehen? Ich weiß es nicht, wirklich. Ich weiß nur, dass ich selber auf so einem Baum gesessen habe, jedes Jahr im Frühsommer, wenn die ersten Kirschen, die Glaskirschen, zur Reife kamen, später wechselten wir zu den roten, den schwarzen. Wir griffen danach und hatten die Hände, aus denen wir aßen, voller Kirchen, der Saft rann uns durch die Finger, über die Arme, aus dem Mund.
Ganz links, dem Betrachter etwas näher als der Baumtorso, ist ein Spaten in den Rasen getreten. Mir fällt sofort Caspar David Friedrich ein und die Friedhofsspaten auf seinen Bildern. Warum Friedrich und warum im Plural? Stante pede könnte ich ein konkretes Bild nicht nennen. Die Gestalt des Malers erscheint zwischen Spaten und Baumtorso, genauer zwischen Spaten und einer schon abgedorrten Distel, ein zweites Exemplar davon hinter ihm, weiter im Hintergrund. Nach vorn gebückt, etwas in die Knie gebrochen, gießt er aus einem schwarzen Maurereimer Wasser auf ein wohl eben gepflanztes Eichenbäumchen. Wir sehen die Finger seiner Hände, die rechte am Boden des Eimers, die linke am oberen Rand, den silbrigen Wasserschwall. Sein Gesicht ist aber vom strähnig herabfallenden Haar verdeckt. Ver- bzw. bedeckt auch der Himmel hinter und über ihm, es ist Herbst. Die Sonne erscheint nur als heller, matt ausstrahlender Kreisfleck im grau wabernden Gedunst, welches die Atmosphäre über der Erde erfüllt, eine Stimmung wie an einem letzten Tag.
Aber warum beschreibe ich das? Wohinaus soll das führen? Man sieht eben nicht nur, was man weiß, wie Goethe meinte, und man beschreibt oder malt es auch nicht. Was bildende Kunst betrifft, war Goethe wohl weitgehend blind. Weiß man etwas über die Bilder, wenn man sie beschreibt? Vielleicht, etwas. Ich bin mir nicht sicher. Es gibt einen Unterschied zwischen Wissen und Gewissheit, oder? Der betrifft ihre körperliche Präsenz.
II Im Uttewalder Grund
Das bekannteste Spatenbild Friedrichs ist wahrscheinlich „Friedhof im Schnee“, in finde es in der Monografie von Geismeier[1]. Gleich mit zwei Exemplaren dieser Werkzeuge, doch spielen die eine andere Rolle als auf dem oben beschriebenen Foto. Bei Friedrich sind es immer Verlassene, nirgendwo einer ihrer Benutzer.
Doch gibt es noch einen anderen Link zum berühmten Greifswalder und wahrscheinlich war das der Grund, weswegen sich mir sein Name einstellte: den Uttewalder Grund. Seitdem Thomas Blase während eines Telefongesprächs, das wir vor ein paar Wochen führten, eher beiläufig erwähnte, dass er vor Kurzem in der Sächsischen Schweiz auf dem sogenannten Malerweg in den Uttewalder Grund hinabgewandert sei, und mir noch seine Telefonstimme den tiefen Eindruck zu suggerieren schien, den das auf ihn gemacht hatte, sah ich seine Gestalt vor allem grunddurchwandernd zwischen aufgestapelten Felsentürmen. Es ist, dachte ich, dann nur ein Schritt in seine Bilder, die er ebenso durchwandert, freilich unsichtbar.
Friedrich hatte im Sommer 1800 eine ganze Woche dort zugebracht und am 28. August als erster das Uttewalder Tor gezeichnet. Er soll in dieser Woche keinem einzigen Menschen begegnet sein.[2] Eine im Jahr darauf entstandene Sepiamalerei wird heute im Museum Folkwang aufbewahrt.[3] Mühelos, so scheint mir, lässt sich eine kompositorische Verwandtschaft mit einem der Gemälde von Thomas Blase aus dem Jahr 2017 entdecken (20/122). Es spricht eine nüchterne und zugleich grundgehende Unmittelbarkeit der Anschauung aus dem Friedrich-Blatt, die man in dieser Zeit unter den Schweiz-Malern ohnehin nur bei Friedrich findet, vor ihm bei Adrian Zingg (1734-1816) auch bei seinem Malerfreund, dem durch seine Porträts berühmten Anton Graff (1736-18193, später vielleicht bei Ernst Erwin Oehme (1831-1907). Unmittelbarkeit meint hier: ohne das Dazwischentreten einer Idee oder Ideologie oder anderen äußeren Anforderungen, gleichsam mit nacktem Auge. Der Stein erscheint vor dem Auge des Künstlers mehr als dass er diesen nur sieht, ein Resonanz-Verhältnis.[4] Nur die beiden merkwürdig grotesken Figürchen, die Friedrich in das Felsentor skizzierte, irritieren diesen Eindruck. Das Phänomen einer solchen Irritation findet sich auch bei Zingg, dem eigentlichen malerischen Erstbegeher und – gemeinsam mit Graff – Namensgeber der Sächsischen Schweiz. Gerade in seinen Nahaufnahmen interessiert der sich doch eigentlich nur für das Leben der Steine oder das Wirbeln des Wassers. Schon die Pflanzenwelt scheint eher geflissentlich aufziseliert, die Figurage zuweilen wie eine spätere Zutat, geradezu ein Zugeständnis, wie das „Und nun mache man sich auf große und hohe Empfindungen gefaßt“, dass der in Lohmen auf einer Pfarrstelle sitzende Carl Heinrich Nicolai 1801 der dann durchaus sachlichen Beschreibung eines Abstiegs in den Uttewalder Grund voranstellt.[5] Wodurch sich die Frage auftut, ob nicht viele der einsam vor Landschaften postierten Figuren Friedrichs ebenfalls derartige Erhabenheitswegweiser sind, also auch ohne diese vorstellbar? Ich erspare mir das Nachlesen und sage ja, denn es gibt sie ja, die Friedrich-Bilder, die ohne Menschen auskommen, viele Zeichnungen zum Beispiel, wie die von einem Steinbruch bei Krippen. Auch sein berühmtes Kreidefelsenbild beruht auf einer Zeichnung, die ohne die vordergründigen Betrachter auskommt, die einer gewissen biedermeierlichen Komik ja nicht entbehren. „Das große Gehege“, für mich das faszinierendste Gemälde Friedrichs überhaupt, kommt mit einem kleinen Segelschiff in der Ferne als Signal menschlicher Anwesenheit aus. Da wird nicht gegafft und gewundert. Das Schiff erscheint als winziger Moment einfach ebenso wie alles Umliegende, ein Bild am diamantenen Grat zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Thomas Blase, so unterstelle ich jetzt, muss es gesehen haben, als er in Dresden studiert hat.
III Einen Maler erfinden
Wenn ein Autor ein Werk erfindet, ist es dann nicht mehr als legitim, zu einem existierenden Werk einen Autor zu erfinden? Man weiß von den diversen Konflikten, die sich dem aus ihrem Werk abgeleiteten, nicht erwartungsgemäßen Verhalten von Autoren ergeben. Die gibt es in diesem Fall nicht, denn der Autor ist eine fiktive Person, wenngleich mit tatsächlich existierendem Namen, einem Ausweis und einer Meldeadresse. Ich stelle mir für die Bilder von Thomas Blase eine Art Entdeckung des Malens beim Gehen[6] vor, einen „Lenz durchs Gebirg“[7], aber auf der lichten, der hellen Seite. Kopfüber sozusagen ginge der Maler dann am Abend die Wege auf Otto von Odelebens Karten[8], die er am Tag zu Fuß durch das wirkliche Gebirge gegangen war, noch einmal, bis in die Phase, in der Wachsein und Schlaf/Traum sich übereinander schieben. Obwohl die Karten von Odelebens die Topographie der Gegend um Hohnstein und Schandau so präzise und genau wie nie zuvor darstellten und damit höchsten wissenschaftlichen Standards entsprachen, ist es für den angehenden, von der Kunst infizierten, Maler eine Art von Phantasmagorie, durch die er hier nächtlich mit den Fingern marschiert. Es ist irgendwie schon eine Kunstwelt, von geradezu berückender Sinnlichkeit, in der der Finger das Auge führt.
Zweite Frage (nur, um sicher zu gehen): Ist es möglich, in Dresden Kunst zu studieren, ohne die Sächsische Schweiz zu bewandern? Offenbar ja.
„Nein“, war die Antwort, weil die Frage mit einem anderen Vorzeichen gestellt war, „nie“. Und dann, nach einer kurzen Pause: „Das wundert mich selber.“
Mich erst. Nach dem „Großen Gehege“, dachte ich, fragst du jetzt lieber nicht, sonst macht der dir die ganze schöne Geschichte kaputt.
Dafür aber, so Thomas Blase, habe er bestimmt alle der Dresdner Billardkneipen gekannt. Er hatte damals schon Familie in Halle, pendelte montags von dort in die Hochschule ein, am Wochenende wieder aus, weil er oft auch da schlief, dazwischen Kunst und Billard. Eigentlich, so meinte er, hat er nicht in der Stadt gelebt während des Studiums. Er befand sich in Dresden also tatsächlich in einer Art von innerem Raum, in einem Kunst- und Spielraum, wobei auch Städte, Landschaften, Gebirge ohnehin innere Räume besitzen, indem sie sich deutlich aus ihrem Umland sondern. Man spricht nicht von einem inneren Deutschland, England, Schweden, wohl aber von einer Innerschweiz, von einer Inneren Mongolei und natürlich besitzt fast jede Stadt eine Innenstadt, ein Dorf hat in aller Regel jedoch kein inneres Dorf.
Während sich die Sächsische Schweiz durch ihre natürliche Gestalt sichtbar vom Umland abgrenzt, ist es beim Mansfelder Land – eine der Kindheitslandschaften von Thomas Blase – seine rabiate künstliche Formung. Es ist „eine um- und umgewendete“, wie der Lyriker Heinz Czechowski schrieb, das Unterste nach oben gekehrt, das Innerste nach draußen. Zwischen den Spitzkegelhalden dieser raubgebauten Landschaft lebt man in gewisser Weise im pyramidal aufgeschütteten Erdinneren, die höchste bei Volkstedt misst 153 Meter. Mit 70 Metern sind die Türme des Doms in Naumburg, wo das Kind Thomas vorher lebte, nicht einmal halb so hoch, situiert zudem in dem von einer tausendjährigen Hochkultur geprägten, gern als lieblich charakterisierten Unstruttal. Die Innenräume dort sind Schatzkästen, der mir wundervollste Schatz die Blattkapitelle am Westlettner des Doms, Blätterwesen aus Stein, wie ich sie bis heute nirgendwo sonst auf der Welt gesehen habe. Auch ihr Schöpfer balanciert, wie Friedrich in seinem Gehege-Bild, auf einem Grat, auf einem Blattgrat, wenn man so will. Auch die innersten Innenräume des Mansfelder Landes sind bzw. waren einmal Schatzkammern, ehe man die Schätze durch Schächte ausräumte und verkaufte. Was vor Ort blieb, war taubes Gestein, es hatte nicht die Eigenschaften, die sich der Mensch in Gestalt des Bergmanns von ihm erwartet hatte. Es hörte nicht auf ihn, er verwarf es. Wer nicht hört, muss fühlen. Verworfen sein.
IV Billardkneipe
Der Begriff Billardkneipe verschludert die adlige Abkunft dieses ins Innere (schon wieder), auf einen Tisch transferierten Rasenspiels, das man heute zu den sogenannten Präzisionssportarten zählt. Aus den königlichen Gärten, in denen man es einst spielte, hat begrifflich merkwürdigerweise die Pomeranze diesen Transfer mitgemacht. Ihre goldenen Früchte sollten den Schein ewiger Schönheit ins begrenzte, irdisch fragile Dasein bringen. Im Zusammenhang mit dem Billardspiel bezeichnet das Wort nun die kleine, ein- oder mehrlagige schweinslederne Auflage an der Spitze des Queues, mit der die Spielkugel angestoßen wird. Ihr Kreiden zwischen den Stößen dient der Dosierung ihrer Klebekraft, ohne die zum Beispiel kein Effet gespielt werden kann, zugleich aber der Beruhigung des Spiels, die das Überdenken und Planen des Spielverlaufs möglich macht, ähnlich etwa dem Zurücktreten des Malers vom Bild, dem Aufstehen des Autors vom Schreibtisch. Eigentlich geschieht in diesen Pausen das Entscheidende, oder? Eben zum Beispiel, bei einem Espresso, die Ordnung des eben Geschriebenen und die weitere gedankliche Vorbereitung der folgenden Sätze.
Bevor der Kunststudent Thomas Blase nächtelang durch Dresden zog und mit den Bewegungsprofilen der auch Bälle genannten Spielkugeln ein zaubrisches Liniengespinst auf den Billardtischen der Stadt entwarf, die Pomeranze kreidete, auf den sanften Anstoß lauschte, das helle Klacken erwartend, sie mit den Augen verfolgend, dem dumpfen Rollen der Kugel nachging, hatte man ihn in Halle an der Saale, an der Hochschule für industrielle Formgestaltung, rausgeworfen, exmatrikuliert. Das Haus, in dem sich sein Atelier befand, war abgebrannt und man unterstellte Brandstiftung, was es, wie später in Akten nachzulesen, wirklich war, allerdings vom MfS, Brandrodung sozusagen. Er entsprach damit auch offiziell nicht mehr den Vorstellungen, die sich die dortige Exekutive von einem Kunststudenten machte. Er schade dem Ansehen der Hochschule. Künstler sind keine Brandstifter. Erst daraufhin hatte der so Verworfene die Chuzpe sich in Dresden zu bewerben und auch noch die Eignungsprüfung zu bestehen. Dass man ihm zunächst trotzdem, diesmal ohne Nennung von Gründen, eine Absage erteilte, zeugt wohl von funktionierenden Verbindungen. Als Thomas Blase sich endlich entschlossen hatte, nach Dresden zu fahren, um die Gründe für die erhaltene Absage in Erfahrung zu bringen, rannte er jedoch plötzlich die sprichwörtlichen offenen Türen ein. Der frisch als neuer Rektor der Akademie berufene Johannes Heisig war, auf der Höhe der Zeit, nicht zugleich in die bestehende Seilschaft eingetreten.
V Pessoa lesen!
Als ich lese, dass Fernando Pessoa der Lieblingsdichter von Thomas Blase ist, fällt mir nur ein, das Cover war stark farbig und dass ich kaum darin gelesen hatte. Es war einer der üblichen Vorratskäufe, die man in der DDR regelmäßig tätigte. Ich glaube, ich kaufte es hauptsächlich wegen seines Titels, „Ich legte die Maske ab“, weil ich meine Maske wohl auch ablegen wollte, war dann aber irgendwie enttäuscht, weil ich meinte, er verfolge eine einer solchen Offenbarung entgegengesetzte poetische Strategie. Dass er mit den Masken, die er sich wechselnd aufsetzte wie ein Clown vielleicht sichtbarer sein konnte als ohne sie, dieser Gedanke war mit damals, 1978, noch nicht zugänglich.
Ich lese einfach mal ziellos, ohne auf die verschiedenen Namen zu achten, unter denen er schreibt:
„Es ist nicht genug, das Fenster zu öffnen, / um Felder und Fluß zu sehen. / Es ist nicht genug, nicht blind zu sein, / um Bäume und Blumen zu sehen. / Man darf auch keiner Philosophie folgen. / Mit Philosophie gibt es keine Bäume: nur Ideen. / Es gibt nur ein geschlossenes Fenster und draußen die ganze Welt; / man träumt nur von dem, was man sähe, wenn sich das Fenster öffnete, / und das entspricht niemals dem, was man sieht, wenn man das Fenster öffnet.“
Oder:
„… / Ist Bewußtsein haben mehr wert als Farbe haben? / Kann sein und kann nicht sein. / Ich weiß, daß es nur etwas anderes ist. / Niemand vermag zu beweisen, daß es mehr als nur anders ist.“
Oder:
„Mein Traum von einem endlosen Hafen durchdringt diese Landschaft, / die Farbe der Blumen wird durchsichtig wie die Segel der großen Schiffe, / die vom Kai ablegen und in den Wassern als Schatten / die sonnendurchglühten Silhouetten uralter Bäume mit sich führen … „[9]
Aufgabe: Pessoa lesen!!!
VI Glas, Theater, Landschaft, und doch noch mal Goethe
Glas ist ein heikles Material. Man kann nicht machen was man will mit ihm. Es zerbricht schnell, auch gefährlich werden kann es. Wer nicht auf das Glas hört, wird es möglicherweise schmerzhaft zu spüren bekommen. Man muss sich mit ihm ins Benehmen setzen. Thomas Blase hat, bevor er an der Burg in Halle zunächst Glasgestaltung studierte und dann in die freie Kunst wechselte, eine Ausbildung als Bleiverglaser in Quedlinburg gemacht. Da hätten wir uns fast über den Weg laufen können, denn 1983 schmiss ich dort meinen Dramaturgenjob und 85 fing ich in der noch vor ihrer Eröffnung stehenden Feininger-Galerie an, die ich allerdings 88 wieder verließ, verlassen musste, weil ich nebenher, meint extern, Kunstgeschichte studieren wollte. Natürlich fällt mir da das berühmte Glasscherben-Bild Feiningers ein, aber da Thomas Blase, wie ich heute weiß, ja auch als Bühnenbildner arbeitet, sehe ich zugleich die zueinander arrangierten Kulissen, die Gänge der Schauspieler über die Bühne, Bewegungsprofile die was ergeben? Ein Bild? Schauspieler als von der Dramaturgie eines Stückes in Bewegung gebrachte Billardkugeln, die das Stück ja erst sichtbar machen? In Bildern? Denen sie Halt geben wie die weichen Bleiruten dem harten Glas? Der Schauspieler ist der Horizont und die Grenze des Theaters, die Bleirute Horizont und Grenze des umschlossenen Glases, Horizont in jeder Richtung, geteilt mit den angrenzenden Gläsern, Schauspielern. So entsteht eine Glaslandschaft, die Landschaft eines Stückes, eine Landschaft aus lauter Horizonten.
Den Begriff Landschaft hat Thomas Blase uns als Schlüssel für seine Bilder selbst auf den Tisch gelegt. Da liegt er nun und wird gern und dankbar in Anspruch genommen. Den dann rhetorisch meist vorweggenommenen Einspruch, dass da auf den Bildern keine wirklichen Landschaften erkennbar seien, schlägt man mit Paul Cézanne aus dem Feld, der 1896 den Gedanken festhielt, dass „die Kunst […] eine Harmonie parallel zur Natur“ sei. Manche folgern daraus sogar, sie arbeite mit den gleichen Gesetzen. Ich frage mich aber, warum „parallel zur Natur“? Ist das wirklich notwendig? Zumal, wenn man sich unbedingt auf Cézanne berufen möchte, der hat, wenn ihm der Tag lang war, sehr viele bedenkenswerte Dinge gesagt. So pflegte er die Vorstellung von einem denkenden Auge, hielt hingegen das begriffliche Denken während des Malprozesses für schädlich. Allgemein ging er davon aus, dass „die Natur […] nicht an der Oberfläche [existiert], sie geht in die Tiefe. Die Farben“ hielt er schließlich für den „Ausdruck dieser Tiefe an der Oberfläche. Sie steigen aus den Wurzeln der Welt auf. Sie sind ihr Leben, das Leben der Ideen.“ Da ist er ziemlich nah bei Goethe.
Faust II ist die Geschichte eines Mannes, der im ersten Bild des ersten Aktes (Anmutige Gegend) erkenntnistheoretisch eine 180-Grad-Wende vollzieht. Er geht der Sonne nicht mehr entgegen, um das Wesen der Welt zu enträtseln, sondern kehrt ihr den Rücken. Jetzt blendet die Sonne nicht mehr, aber der Mann, der ihr im Weg steht, wirft einen Schatten. Es ist fortan die Geschichte eines Mannes, der permanent in seinen eigenen Schatten tritt, das unlösbare Problem, es ist sein Schatten. Doch das kommt später. Was er jetzt sieht, ist ein im Licht von der Höhe herabstürzender Bergbach, wie er ihn in seiner zaubrischen Wechselgestalt noch nie gesehen hat. Er erkennt in diesem „Wassersturz“ einen Spiegel menschlichen Bemühens, eigentlich eine deprimierende Erkenntnis, weiß er, was er sagt? Und fordert sich selbst auf, über das Gesehene nachzudenken. Das Ergebnis ist insofern erstaunlich, als es sich nicht auf die zwar phantastisch schöne, doch eigentlich wohl hoffnungslos prekäre Verfasstheit menschlicher Anstrengung bezieht, sondern prinzipieller, erkenntnistheoretischer Natur ist. „Am farbigen Abglanz“, so wird das Denkresultat in nur einem Satz komprimiert, „haben wir das Leben.“ Was für eine Bescheidung, ja Demut, gegenüber dem hysterischen Weltformel-Verlangen des ersten Teils. Auch diesbezüglich haben wir einen Link zu Cézanne, der Bescheidenheit für eine Eigenschaft hielt, „die vom Bewusstsein der eigenen Macht herrührt“, die bekanntlich ja auch eine Ohn-Macht sein kann.
Also Abglanz, nicht nur äußerer, sondern auch innerer Erscheinungen, eine Wieder- und Wiederentdeckung der Farbe beim Malen[10], mir scheint, auf diesem Malerweg ist Thomas Blase unterwegs. Ohne Fahrplan. Und wenn tatsächlich einmal ein paar Zeitangaben durchschimmern, gibt es keine Angabe von Tag und Jahr. Der Gegenstand selbst spielt dabei tatsächlich nur eine sekundäre Rolle, aber er ist immer anwesend, auch unsichtbar, er ist existentieller Natur. Die Entdeckung der Malerei beim Malen. Das Entfernen jeglichen Vorurteils. Die Erscheinung als Glücksfall. Verwunderung, Verwanderung, Enttäuschung, es kann in jede Richtung gehen. Es ist eine nachsorgende, vorsorgende Malerei, die in ihrer grundsätzlichen Haltung viel mit der Art und Weise zu tun hat, wie Thomas Blase auch Bäume pflanzt und angießt, ganz im Bewusstsein der eigenen Macht.
[1] Willi Geismeier, Caspar David Friedrich, Leipzig 1994, T. 78.
[2] Nach Frank Richter, Die Sächsisch-Böhmische Schweiz wie sie Maler sahen, Dresden 2013, S. 41 u. 87.
[3] Ebd., S. 7.
[4] Der Autor denkt hier an die Theorie von Hartmut Rosa, die grundlegend dargelegt wird in: Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2019.
[5] Nach Manfred Schober, Malerweg-Wanderführer, Dresden 2007, S. 62. Schober zitiert aus: Carl Heinrich Nicolai, Wegweiser durch die Sächsische Schweiz, Pirna 1801.
[6] Adaptiert einen Buchtitel von Thomas Rosenlöcher: Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Rosenlöcher beschreibt dort allerdings eine Harzreise.
[7] „Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg.“ ist der erste Satz aus Georg Büchners posthum veröffentlichter Novelle „Lenz“.
[8] Otto von Odeleben (Autor), Ferdinand Julius Reyher (Kupferstecher), Topographische Karte der Gegend von Schandau und Hohnstein oder des besuchtesten Teiles der sächsischen Schweiz, Dresden 1830.
[9] Die Verse wurden entnommen: Fernando Pessoa, Ich legte die Maske ab, Leipzig 1978.
[10] Siehe Anm. 6.
Der Beitrag erschien in Thomas Blase querfeld, Mitteldeutscher Verlag 2025